Geringe Komplexität.

Aktueller Stand: Unnötige Komplexität, auch häufig eher spöttisch als „Overengineering“ bezeichnet, ist nach Prof. Wildemann der TU München einer der häufigsten Fehler in der Produktentwicklung. Dies geschehe durch Unkenntnis des Herstellers über die Kundenanforderungen, sodass zu viele Funktionen in das Endprodukt konstruiert würden:

So wurden bei einem Produzenten von Großdruckmaschinen die Herstellkosten um 32 Prozent gesenkt, ohne dass der Kunde auf irgendetwas hm Wichtiges verzichten musste. Bei Schweißrobotern erreichten die Einsparungen 15 Prozent, bei Spritzgussmaschinen waren es zwölf und bei Frequenzumrichtern 25 Prozent. Selbst in der Konsumgüterindustrie und bei Versicherern sind mit dem Verzicht auf Overengineering stattliche Einsparungen erzielt worden. […] Bei der Vermeidung von Overengineering ist die Kundenorientierung der entscheidende Faktor. Allzu oft werden nämlich in der Praxis die Produkte nach Anforderungen gebaut, die einfach aus den Produkten und Verfahren der Vergangenheit fortgeschrieben werden.

Typisch sind, insbesondere für chinesische Elektronik, dass man so viele Funktionen wie möglich im Gehäuse unterbringt, denn jede Funktion ist ein Argument mehr für den Kunden, es zu kaufen (so der Hintergedanke). Gängige Praxis in Engineering Abteilungen ist außerdem, stetig auf dem Vorgängermodell aufzubauen. Das heißt also, für die Entwicklung der nächsten Generation eines Produktes wird meist das Vorgängerprodukt als Ausgangspunkt genutzt und neu erkannte Eigenschaften aus dem Pflichtenheft müssen im nächsten Modell Einzug erhalten. Dies hat zwanghaft die Folge, dass die gesamte Komplexität des Endproduktes stetig zunimmt. Es ist zwar in vielen Fällen auch nicht sinnvoll, mit einem weißen Blatt Papier zu starten, da dies zu ineffizientem Aufwand führen könnte, weil die Grundfunktion sich in der Regel nicht sonderlich verändert, aber angesprochene Abwägungen zu Zusatzfunktionen sind unabdingbar. Im Sinne der Kosteneinsparung ist dies außerdem, da weniger unnötige Zusatzfunktionen weniger Geld kosten. Es ist auch im Sinne der Langlebigkeit eines Produktes, weil:

Je weniger Komponenten und Baugruppen vorhanden sind, desto weniger kann kaputtgehen.

Ein Grund für „unnötige Komplexität“ im Alltag des Konstrukteurs kann aus physiologischer Sicht auch die Einfachheit heutiger CAD Systeme sein. Selbst komplexe Teile sind im Handumdrehen kinderleicht und unter Dopaminausschüttung, aufgrund des PC Bildschirms, zu konstruieren. Bei früheren CAD Systemen überlegte man sich aufgrund der umfänglichen und teilweise unlogischen Bedienung gleich zweimal, ob ein Teil zu konstruieren tatsächlich sinnvoll ist. Auf die reinen Skizzen und technischen Zeichnungen aus der Zeit vor den CAD Systemen trifft dies auch eher zu. Die umfänglichen Visualisierungen des CADs sorgen für Detailversessenheit und den Drang nach Perfektionismus. Auch Kosteneinsparungsmaßnahmen können paradoxerweise zu unnötiger Komplexität im Endprodukt führen. So ist es bspw. in vielen Fällen günstiger, zusätzliche Verstrebungen zur allgemeinen Versteifung einzelner Komponenten zu bauen, anstatt die Wandstärke zu erhöhen. Solche Maßnahmen sorgen dafür, dass das Endprodukt günstiger, aber durch die höhere Komplexität eine höhere Bauteilversagenshäufigkeit aufweist. Ein Grund für vorzeitig ausfallende „unnötige Komplexität“ vieler Komponenten des Endproduktes ist der fehlende Bezug vieler Konstrukteure zur Praxis. Insbesondere bei Großkonzernen, welche häufig auch global agieren und sehr kleinteilig auf eine große Fläche aufgeteilt sind, ist die Versuchung groß, dass Konstruktion, Produktion sowie F&E weitestgehend unabhängig voneinander agieren. Hinzu kommt der theoretisch geprägte Bildungsweg des heutzutage durchschnittlichen Konstrukteurs. Praktische Erfahrungen aller Art, welche durch eine Berufsausbildung oder das direkte Bedienen des Endproduktes erlangt werden – „Praktische Erfahrungen“ im Büro und am PC gehören nicht dazu – sind häufig unzureichend vorhanden.

Mögliche Entwicklung: Bei diesem Trend erscheint es im Sinne der Nachhaltigkeit als sinnvoller, dass man wenige Funktionen im Produkt unterbringt, diese dafür aber umso zuverlässiger erfüllt – nach dem Motto „Weniger ist manchmal mehr“. Eine Fahrradlampe bspw. mit schlecht ausgeführter Zoom-Funktion ist schlechter als die gleiche Lampe ohne Zoom-Funktion. Jede Funktion, welche über die grundlegenden Funktionen des Produktes hinaus geht, wird unter verschiedenen Gesichtspunkten abgewogen, welche Zusatzfunktionen einen Mehrwert für den durchschnittlichen Endverbraucher bieten. Diese Abwägungen können in der künftigen Konstruktionspraxis nicht nur in der Managementebene gemacht werden, die das Pflichtenheft aufstellen, was die Konstrukteure dann umzusetzen haben, sondern auf allen Hierarchieebenen, um so praxisnah wie möglich Entscheidungen treffen zu können. Der fehlende Praxisbezug vieler Konstrukteure lässt sich durch eine intensive Konfrontation mit der Praxis beheben. Kleinere Konzerne, bei welchen viele Bereiche an einem Standort vertreten sind, sind hier im Vorteil, es hilft aber auch eine partielle Verlagerung der digitalen Konstruktion in die konventionelle Werkstatt. Der Ansicht des Autors nach würde dies bei vielen Konstrukteuren den „Fokus auf das Wesentliche“ stärken und so auch Probleme wie Detailversessenheit oder dreiste Kosteneinsparungsmaßnahmen zulasten der Langlebigkeit zumindest teilweise beheben. Die Einfachheit des CADs wurde auch als Problem dargestellt, nun ist selbstverständlich die alleinige Verwendung von Papier und Zeichenbrett, oder die Umrüstung auf ältere CAD Programme ineffizient. Abhilfe kann hier eine gesunde Verhältnismäßigkeit schaffen, welche eine Koexistenz zwischen mehr konventioneller Zeichnung, modernem CAD Einsatz und praktischen Erfahrungen des Konstrukteurs erlaubt. Ein weiterer Vorteil der Reduktion der Bauteilanzahl und damit der Reduktion der Komplexität des Endproduktes ist die verbesserte Reparaturfreundlichkeit für den Endverbraucher, die Service-Fachkraft und den Recyclingdienstleister am Ende des Lebenszyklusses.

Fazit: Der Punkt „Unnötige Komplexität“ ist, unabhängig von der Konstruktionsebene, auch eng verknüpft mit dem teilweise verkrampften Versuch, Innovationen geplant zum „Daily-Buisness“ zu machen. Ständiger Innovationsdruck, den sich die Unternehmen im Wettbewerb machen, ist per se richtig und wichtig, da Strategie und Innovation ein zukunftssicheres Unternehmen schaffen. Es ist korrekt, stetig Recherchen zu zukünftigen Trends zu machen, viel Zeit in Forschung und Entwicklung zu stecken. Dies muss aber ganz zwanglos ohne Deadlines geschehen, da gute Innovationen (also langfristig bestehende) relativ selten und nicht planbar entwickelt werden. Außerdem muss für die F&E Abteilung ausreichend Zeit sein, damit sich ihre Entwicklungen bewähren können und praxistauglich sind. Wenn beispielsweise jedes Jahr zu einem festen Datum ein neues iPhone und neue Software veröffentlicht wird, ist es vielleicht aus finanzwirtschaftlicher Sicht für das Unternehmen sinnvoll, jedoch nicht aus rationaler Betrachtung auf die Entwicklung einer zeitlosen Produktpalette im Sinne der Nachhaltigkeit.
Wie so oft ist also ein Mittelweg zwischen extremem Innovationsdruck und gar keinen Innovationsbestrebungen sinnvoll.

Quelle: Bachelorarbeit „Richtlinien für eine kreislaufwirtschaftliche Konstruktionstechnik im Haushaltswaschmaschinenbau“, Tobias Nimmerrichter, Technische Hochschule Ingolstadt, Juli 2024.